1.Dez. 2024 1.Advent-Sonntag
Dann erhebt eure Häupter
Lukas 212,25-28.34-36
Es werden Zeichen sichtbar werden an Sonne, Mond und Sternen und auf der Erde werden die Völker bestürzt und ratlos sein über das Toben und Donnern des Meeres. Die Menschen werden vor Angst vergehen in der Erwartung der Dinge, die über den Erdkreis kommen; denn die Kräfte des Himmels werden erschüttert werden. Dann wird man den Menschensohn in einer Wolke kommen sehen, mit großer Kraft und Herrlichkeit. Wenn dies beginnt, dann richtet euch auf und erhebt eure Häupter; denn eure Erlösung ist nahe. Nehmt euch in Acht, dass Rausch und Trunkenheit und die Sorgen des Alltags euer Herz nicht beschweren und dass jener Tag euch nicht plötzlich überrascht wie eine Falle; denn er wird über alle Bewohner der ganzen Erde hereinbrechen. Wacht und betet allezeit, damit ihr allem, was geschehen wird, entrinnen und vor den Menschensohn hintreten könnt!
Mit dem 1.Adventsonntag beginnt ein neues Lesejahr: nämlich Lukas. Das vergangene Jahr hatte den Schwerpunkt Markus. Der Advent beginnt mit dem „Kommen des Menschensohnes“. Vor 2 Wochen hatten wir dasselbe Thema, allerdings in der Markus-Version.
Lukas hatte den Markustext als Vorlage. Dort lautete es: „Die Sonne wird verfinstert werden, und der Mond wird nicht mehr scheinen, die Sterne werden vom Himmel fallen“. Das kürzt Lukas. Er schwächt es ab und fasst zusammen: „Zeichen an Sonne, Mond und Sternen“, Der Grund für Lukas könnte sein, dass die sogenannte Naherwartung ausgeblieben ist. Paulus ist in den 50erJahren überzeugt, dass der "Tag Christi" in Kürze zu erwarten sei. Zur Zeit des Lukas in den 90er Jahren gab schon Leute innerhalb und außerhalb des Christentums, die darüber spotteten: Wo bleibt denn der "Tag Christi"?
So schildert Lukas die Himmelsphänomene bewusst nicht mehr als Endzeit-Zeichen. Sie kommen ja tatsächlich hin und wieder vor. Im nächsten Satz schon holt er den Leser von der Himmelsbetrachtung auf die Erde und an das Meer. „Auf der Erde“ gibt es Entwicklungen, die Besorgnis erregen. Unter den Völkern wird sich eine innere Not breit machen, ein Bedrückt-Sein. Woher kommt die Bedrängnis? Es ist die Folge von Ratlosigkeit. Es gibt niemand, der klar sagen kann, was stimmt. Manche Leute halten das eine für richtig und die anderen das Gegenteil. Die Menschen werden nicht mehr ein und aus wissen, werden ratlos sein.
Dann fügt Lukas eine Naturkatastrophe hinzu: Er beschreibt sie in ganz kurzen Worten: vom Meer her ein unerklärlicher Lärm, ein Getöse, ein Rumoren. Dann folgt das Heran Rollen von übermächtigen Wellen. Sie donnern auf das Land zu. Diese Erklärung ergibt sich aus wörtlicher Übersetzung: Statt „Toben und Donnern des Meeres“ verstehen wir zuerst ein Rumoren, ein Grollen; dann ein Rollen, ein Rütteln. Was Lukas hier schildert, klingt nach Tsunami. Tatsächlich ist die Region, wo Lukas lebt, das am meisten durch Erdbeben und Meeresbeben gefährdete Gebiet im römischen Reich. Es ist die heutige Westtürkei und das östliche Griechenland und das dazwischen liegende Meer, die Ägäis. Am dortigen Meeresboden schiebt sich die afrikanische Erdplatte unter die europäische, das verursacht geologische Spannungen und Erdbeben. Ob Lukas selber so ein Seebeben erlebt hat, ist fraglich.
Nehmt euch in Acht, dass Rausch und Trunkenheit und die Sorgen des Alltags euer Herz nicht beschweren
Aber er ist ein hochgebildeter und belesener griechischer Schriftsteller, der sich mit den weltlichen Schriftstellern seiner Zeit messen will. Er baut geographisches, naturkundliches und medizinisches Wissen ein in seine Texte. Er schreibt zwar als Zukunft, nämlich „die Völker werden ratlos sein“, aber er erlebt die Seelennot bereits in seinem Umfeld.
Lukas steigert noch: „Die Menschen werden vor Angst vergehen in der Erwartung der Dinge, die über den Erdkreis kommen“. „Die Menschen ... werden vergehen“ heißt im Griechischen APO-PSYCHO. Es bedeutet wörtlich übersetzt: „entseelt sein“. Der Atem wird den Menschen wegbleiben. Sie werden nicht mehr frisch durchatmen können. Es wird mit Angst einhergehen. Sie werden Dinge erwarten. Sie ahnen, dass noch etwas auf sie zukommt. Sie fiebern darauf hin. Von den Führern des Landes und von Fachleuten werden Lösungen erwartet. Vom „Erwarten“ ist die Rede, nicht vom „Erhoffen“. Das klingt nach „Fordern“, nicht nach „Vertrauen“. Die Menschen sagen offenbar: „Wir erwarten von euch, von den Verantwortlichen, eine Lösung.“ Diese Phänomene werden nicht regional beschränkt sein, sondern sie werden die ganze Erdkugel erfassen, es wird etwas Weltumspannendes sein. Lukas schreibt nicht: die Dinge werden über die Erde kommen, sondern über den Erdkreis. Das griechische Wort OIKUMENE meint die bevölkerte Erde, die Menschheit, das römische Imperium. Diese Phänomene werden also nicht regional beschränkt sein, sondern sie werden die ganze Erdkugel erfassen. Die negative Stimmung wird etwas Weltumspannendes sein.
Das bis hierher Beschriebene, nämlich die Ratlosigkeit, das Rollen des Meeres, die weltumspannende Angst - das alles zählt nur Lukas auf, die anderen Evangelien nicht. Es stammt offenbar allein aus seiner Feder, weil er es in seiner Zeit feststellt. Nun aber folgt er wieder der Vorlage: "und die Kräfte des Himmels werden erschüttert werden." Die Schöpfungsordnung wird hin und her geworfen, die Kräfte der Natur verlieren ihre Stabilität, sie kommen ins Rollen – wie oben beim Seebeben: Das Klima kommt durcheinander, die Wolken, der Wechsel von Regenzeit und Trockenheit, die Jahreszeiten.
Lukas kommt schriftstellerisch in Fahrt. Kann sein, dass er mit den „Kräften des Himmels“ die sicheren, verlässlichen Grundlagen der Gesellschaft andeuten will. Religion galt immer als Garant für das Zusammenleben der Menschen. Sie gerät ins Wanken. Lukas kennt die Ängste, die in der Gesellschaft seiner Zeit kursieren. Die Bewohner in seiner römischen Provinz leben im Wohlstand, unter friedlichen Verhältnissen, aber sie leben ohne Perspektiven, ohne Zuversicht. Die Menschen feiern einen politischen Führer. Es ist der machtbesessene Kaiser Domitian (81 – 96 n.Chr.) Er setzt sich an die Stelle Gottes und lässt sich als „Dominus et Deus noster“ anreden. Die Massen bejubeln Sporthelden – nämlich Gladiatoren – und sie klammern sich an sie wie an Götter. Aber wie schnell gerät dieser „Himmel von Politik oder Sport“ ins Wanken, er wird erschüttert – der Himmel des irdischen Glücks, Reichtums, Erfolgs oder der Gesundheit.
Anschließend an diese Angstschilderung zeichnet Lukas den "Menschensohn" in die Wolken – ein starkes Bild, das er wieder aus der Vorlage übernimmt. „Dann, wird man den Menschensohn in einer Wolke kommen sehen“. Es heißt ausdrücklich „dann“, also „danach“, nicht gleichzeitig. In Folge all dieser Erschütterungen der Natur und in Folge der weltweiten Ängste wird der MENSCH in seiner Klarheit deutlich über uns sichtbar. Das griechische Wort für „sehen“ ist hier als „beobachten“ gemeint. Bei der Blindenheilung wird ein anderes Wort verwendet: „Ich möchte wieder sehen können“
Jeder wird hinschauen können und erkennen, was das Menschsein wirklich ausmacht. Allen wird es gezeigt, worin die Menschlichkeit besteht. Es wird nicht in einem Winkel der Welt zu sehen sein, sondern auf einer Wolke. Wolken schweben über uns und niemand kann sagen, er sieht sie nicht. Es kommt eine triumphale Demonstration der Menschlichkeit. Keine Macht der Welt kann dieses Kommen verhindern. Alle müssen hinsehen. Alle müssen sich dem stellen, es bleibt niemandem erspart. Ein Teil der Menschen wird es annehmen, ein Teil wird sich dagegen verweigern. Trotzdem werden alle an der Menschlichkeit gemessen. Jeder wird sehen, wie viel Mensch er selber hätte sein können und was noch gefehlt hat. Dieses Menschheitsbild wird identisch sein mit dem, was Jesus in seinen dreieinhalb Jahren vorgelebt und gelehrt hat. Er selber ist das Modell zum Menschsein und es wird die Prinzipien aller Philosophen und Humanisten in den Schatten stellen. Jesus hat sich zu Lebzeiten auch „Menschensohn“ genannt und als solcher wird er wieder erkannt werden in seinem strahlenden, triumphalen Kommen. Wohlgemerkt: Es ist keine „Wiederkunft Christi“. Er kommt nicht noch einmal als Leidender, sondern nur noch kraftvoll und strahlend. Das griechische Wort für Herrlichkeit ist DOXA und meint eine überwältigende Lichtflut. Lukas steigert noch: ein Kommen mit viel (!) Glanz und vielen Strahlen.
Schon den nächste Satz aus der Vorlage lässt Lukas weg, nämlich „das weltweite Zusammenführen der Auserwählten", wie es bei Markus steht. Lukas übergeht die Ankündigung der länderübergreifenden Sammlung, weil sie für ihn noch in weiter Ferne liegt. Stattdessen ermutigt er seine Leser, dass sie aufrecht stehen sollen und zwar gleich am Beginn, sobald die beispielgebende Menschlichkeit aufleuchtet. Sie sollen ihren Kopf erheben. Sie dürfen nicht wie es die Angsterfüllten weltweit tun, den Kopf hängen lassen! „Ihr bleibt nicht geduckt unter der Menschenmenge. Jetzt ist die Stunde da, dass ihr als aufrechte Menschen hervortretet. Selbstbewusst könnt ihr dastehen, mutig und entschlossen. Das heißt nicht stolz, sondern dankbar.“ Das Thema „Aufgerichtet werden“ ist ein Vorzugsthema des Lukas: „Eine Frau war ganz gekrümmt und konnte nicht mehr aufrecht gehen – und das seit 18 Jahren“ Jesus legte ihr die Hände auf und sie richtet sich auf. Das schildert uns Lukas als einziger (Lk 13,10-17). Der Grund, dass die Jesus-Anhänger ihre Häupter erheben können, ist der Freikauf. Die Formulierung „eure Erlösung ist nahe“ trifft den Sinn nur schwach. Es handelt sich um euren Freikauf. So viele Leute lassen sich versklaven von Herren, von Gebietern. Die Menschen sind ihrer Freiheit beraubt. Ihr wurdet freigekauft und eure Freiheit ist nahe. Es liegt nämlich schon das „Lösegeld“ für euch bereit. Was für andere erschütternde Ereignisse sind, dürft ihr als Erlösung betrachten. Es ist eure Befreiung. Sie steht nahe bevor.
Dann geht Lukas noch deutlicher auf seine Umwelt ein. Er sieht wie die Leute ihre Herzen belasten. Diese Lasten drücken sie nicht irgendwo körperlich, sondern sie treffen die Person-Mitte, das Herz. Lukas spricht die belastenden Dinge an: 1. Völlerei. Damit ist Maßlosigkeit gemeint – nicht Maß halten bei Genuss, Unterhaltung, Vergnügen. Die ständige Zerstreuung führt zu Oberflächlichkeit. Achtloser Umgang führt zu Verschwendung. 2.Trinkgelage: Damit ist Rausch gemeint. Manche schwemmen sich absichtlich weg aus dem Leben, in das wir hinein gestellt wurden. Bei allen möglichen Anlässen betrinken sie sich. 3.Alltagssorgen: Damit ist die Sorge um das Lebensnotwendige gemeint, vielleicht sogar der Zwang, noch so viel besorgen zu müssen, was angeblich wichtig ist. Diese dauernde Sorge ist unangemessen.
„Jener Tag kann nämlich plötzlich vor euch stehen. Ihr sollt nicht unvorbereitet sein“. „... wie eine Falle; denn er wird über alle Bewohner der ganzen Erde hereinbrechen“ Er ist wie eine Schlinge, wie ein Strick, der sich langsam zuzieht. Manche Übersetzungen schreiben: "wie eine Falle", aber eine Falle schnappt schnell zu, während eine Schlinge sich nach und nach einengt. Sie wird "über alle Bewohner der ganzen Erde" kommen. Wörtlich übersetzt heißt es: "über die Sitzenden vor der ganzen Erde". Damit könnten die vor den Ländern auf Thronen Sitzenden gemeint sein, die Vorsitzenden aller Staaten der Erde. Die verhängnisvolle Schlinge wird sich nicht über alle „Erden-Bewohner“ zusammen schnüren, sondern über denen, die den Vorsitz führen - über sie alle, ausnahmslos. Vielleicht hat Lukas ganz aktuell vor Augen, wie sich beim Kaiser Domitian die Schlinge zugezogen hat. Er ist durch ein palast-internes Attentat beseitigt worden und danach auch alle seine Günstlinge in der politischen Führung des Reiches.
Nun kommt Lukas zum Schlusssatz der Endzeit-Rede: Den Mitgliedern der Jesus-Hauskreise empfiehlt er „Wacht und betet allezeit". Das Wort "wachen" besteht im Griechischen aus AGROS und HYPNOS und heißt am "Feld" sein und dort "schlafen". Es ist ein Wort aus der Militärsprache: Soldaten schlafen auf freiem Feld und sind Tag und Nacht auf Abruf bereit. Genau übersetzt ist vom "Bitten zu jedem günstigen Zeitpunkt" die Rede, nicht vom „Beten“. Also: Verfällt in keinen Schlaf, sondern bleibt in Rufbereitschaft, indem ihr bei jeder Gelegenheit bittet. Wachsamkeit und immer wieder bitten - nur so seid ihr stark genug, um zu entrinnen, so seid ihr stark, um euch in Sicherheit zu retten, dem Untergang zu widerstehen. So habt ihr die Kraft, all dem Geschehen zu entfliehen. Bittet auch dass ihr vor dem Menschensohn stehen (=bestehen) könnt (nicht „hintreten“). So seid ihr in der Lage, dass ihr euch dem Menschensohn stellt - von Angesicht zu Angesicht. Ihr könnt bestehen vor diesen Menschen-Spiegel. So wie andere Menschen vor diesem Spiegel zur Rechenschaft gezogen werden, so werdet ihr bestätigt und angenommen.
Lukas schreibt in einer Zeit, da die Naherwartung des "Tages Christi" bereits verblasst ist (um 90 n.Chr) Paulus in den 50er Jahren war noch überzeugt, dass der „Tag Christi“ bald kommen würde. Er hielt ihn für ein reales unmittelbar bevorstehendes Ereignis, es sei nur eine Frage von wenigen Jahren. 40 Jahre später – das ist eine Generation – müssen die Lehrer der christlichen Schulen bereits Stellung beziehen zu der Frage. Der 2.Petrus-Brief geht ausdrücklich auf die Verzögerung ein, weil sich schon Außenstehende lustig machen über die Christen, die noch in einer Naherwartung leben. „Vor allem sollt ihr eines wissen: Am Ende der Tage werden Spötter kommen, die sich nur von ihren Begierden leiten lassen und höhnisch sagen: Wo bleibt denn seine verheißene Ankunft? Seit die Väter entschlafen sind, ist alles geblieben, wie es seit Anfang der Schöpfung war. … Das eine aber, liebe Brüder, dürft ihr nicht übersehen: dass beim Herrn ein Tag wie tausend Jahre und tausend Jahre wie ein Tag sind. Der Herr zögert nicht mit der Erfüllung der Verheißung, wie einige meinen, die von Verzögerung reden; er ist nur geduldig mit euch, weil er nicht will, dass jemand zugrunde geht, sondern dass alle sich bekehren.“ (2 Petr 3,3-9 geschrieben etwa 120 n.Chr.)
Schon Lukas scheint sich solchen Einwänden zu stellen und umgeht die Naherwartung geschickt. Dafür schreibt er es so, dass wir uns heute angesprochen fühlen können.