10.Nov. 2024 32.Sonntag im Jahreskreis
Das Letzte zu geben – steht das dafür?
Markus 12,41-44
Als Jesus einmal dem Opferkasten gegenübersaß, sah er zu, wie die Leute Geld in den Kasten warfen. Viele Reiche kamen und gaben viel. Da kam auch eine arme Witwe und warf zwei kleine Münzen hinein. Er rief seine Jünger zu sich und sagte: Amen, ich sage euch: Diese arme Witwe hat mehr in den Opferkasten hineingeworfen als alle andern. Denn sie alle haben nur etwas von ihrem Überfluss hineingeworfen; diese Frau aber, die kaum das Nötigste zum Leben hat, sie hat alles hergegeben, was sie besaß, ihren ganzen Lebensunterhalt
Wir legen diese Bibelstelle mit der Warum-Methode aus. Wir wagen es, jeden Satz mit „Warum?“ zu hinterfragen. Oder mit: „Warum nicht so: …. ?“ Als Jesus einmal dem Opferkasten gegenübersaß, sah er zu, wie die Leute Geld in den Kasten warfen. Viele Reiche kamen und gaben viel. Warum hat Jesus gewusst, welche Beträge die Gläubigen eingeworfen haben? Dazu eine kurze Beschreibung des Schauplatzes: Der ausgedehnte Tempelplatz (etwa 400 X 300 Meter) war für Besucher aus den Völkern also für Nichtgläubige genauso frei zugänglich wie für gläubige Juden. In das eigentliche Heiligtum allerdings durften nur gläubige Juden eintreten. Sie kamen zunächst in den Vorhof der Frauen, dann ging es weiter in den Vorhof der Männer, wo der gewaltig große Opferaltar aufgerichtet war. Das letzte Gebäude, das Allerheiligste durfte niemand betreten. Wenn wir nochmals zurück schauen in den ersten Vorhof, der auch für die jüdischen Frauen zugelassen war, waren wir dort 13 Opferkästen aufgestellt, auch Schatzkammern genannt.
Wer sich das Modell des Tempels ansieht, kann sich ein Bild davon machen. An jedem der posaunenförmigen Behälter stand ein Priester, um die Opfergaben zu überprüfen: War die Höhe des Betrags dem Anliegen angemessen? Stimmte die Währung? Es musste in dem Schekeln bezahlt werden, der aus Tyrus stammte, dem tyrischen Schekel, denn der hatte den reinsten Silbergehalt . Wer den Betrag nicht in dieser Währung zur Verfügung hatte, musste vorher draußen zum Geldwechsler gehen. Die spendenwilligen Gläubigen warfen also nicht stillschweigend ein, sondern führten vor dem Einwerfen ein Gespräch mit dem Tempelbediensteten, dem Priester. Das kann Jesus bei einigen Leuten durchaus mitgehört haben. Warum wusste er, dass die Reichen viel einwarfen? Die Wohlhabenden und die Würdenträger stellten ihre Spenden gerne zur Schau und legten Wert darauf, dass die Bevölkerung merkte, wie großzügig sie einwarfen. Sie ließen ihre Beträge vor sich her posaunen. Ärmere hingegen wurden von dem religiösen Beamten schroff zurecht gewiesen, ob sie sich nicht schämten wegen zu bescheidener Beträge. Die Aussprache erfolgte mitunter lautstark. Jesus hielt es für bedenklich, wenn auch seine Anhänger versuchten, Spenden bekannt zu geben und er empfahl an anderer Stelle: „Wenn du Almosen gibst, lass es nicht vor dir her posaunen … Dein Vater, der das Verborgene sieht, wird es dir vergelten“ (Mt 6,2)
Das eigentliche Heiligtum im Tempel war nur den Juden vorbehalten, den weitläufigen Vorhof der Völker durften auch Nichtgläubige, also Griechen und Römer betreten.
Da kam auch eine arme Witwe. Woran merkte Jesus, dass die Frau eine Witwe war und noch dazu verarmt? Genau übersetzt ist nicht von „einer Witwe“ die Rede, sondern von einer Witwe, die „allein“ war. Sie ging „einsam“ durch das Heiligtum, sie ging nicht in Begleitung eines männlichen Angehörigen, wie das in der orientalischen Öffentlichkeit üblich war. Vielleicht trug sie sogar noch die schwarze Trauerkleidung. Das hätte bedeutet, dass sie erst vor wenigen Wochen ihren Mann verloren hatte. Vielleicht klagte sie dem Tempelpriester ihren Kummer – für andere hörbar. Vielleicht stellte sie sich mit Blick auf das Allerheiligste hin und betete halblaut vor sich hin: „Herr, du verschafft Waisen und Witwen ihr Recht.“ (Dtn 10,18) Sie warf zwei kleine Münzen hinein. Im Originaltext steht es präziser: „Zwei Lepta“ warf sie ein. Das waren kleine griechische Münzen, um die man gerade einmal ein kleines Laibchen Brot bekommen hätte. Weshalb ist der Geldbetrag bekannt? Der Evangelist Markus fügt gleich für seine Leser die entsprechende römische Währung an: „Das ist ein Quadrans.“ Aus der Einfügung ist zu erkennen, dass Markus sein Buch in Rom zum Abschluss bringt. Woher also der Betrag? Offenbar hat Jesus das Gespräch mit dem Spenden-Priester mit verfolgt. Vielleicht wurde der Frau vorgehalten, dass der Betrag lächerlich sei und außerdem nicht der Tempelwährung des tyrischen Schekels entsprach.
Er rief seine Jünger zu sich und sagte: Amen, ich sage euch: Diese arme Witwe hat mehr in den Opferkasten hineingeworfen als alle andern. Warum ging Jesus nicht zu der Verarmten hin und bot ihr Geld an, er der sonst ein Herz für die Armen hatte? Er hätte gleich Judas damit beauftragen können, der doch die Kassa verwaltete. Warum sagt Jesus nicht, wie unangemessen überhaupt eine Spende in den Tempelschatz sei. Der Tempel und das ganze Heer von geistlichen Beamten bis hinauf zu den höchsten Würdenträgern verdiene es gar nicht, unterstützt zu werden. Außerdem würde schon in 40 Jahren kein Stein auf dem anderen liegen bleiben, alles würde niedergerissen. Das sah Jesus jetzt schon kommen und erklärte es seinen engsten Vertrauten. Er wusste, dass schon die nächste Generation das erleben würde: Römische Truppen würden den Tempelschatz rauben – eine unermesslich große Summe Gold. Tatsächlich kam durch den jüdischen Krieg und die Zerstörung des Tempels im Jahr 70 n.Chr. schlagartig soviel Gold auf den Weltmarkt , dass der Goldpreis gesunken ist. Den Schriftgelehrten hielt Jesus vor, dass sie die Häuser der Witwen auffressen. Wie konnte er es noch für gerechtfertigt finden, dorthin auch nur 1 Münze zu spenden? Jesus hatte angesichts der bettelarmen Witwe nicht vor, die Missstände im Tempel aufzudecken. Vielmehr hatte er es eilig, den rundum verstreuten Schülerkreis zu sich zu rufen und ihnen eine Erklärung vorzutragen. Er sagte: „Diese bettelarme Witwe hat soeben einen Geldbetrag eingeworfen, der einen höheren Wert hat, als der von allen anderen.“ Die Zuhörenden werden wohl den Kopf geschüttelt haben. „Wie die aussieht, kann sie nicht so viel Geld gehabt haben.“ Jetzt kam Jesus zu seiner Schlusserklärung: „Üblicherweise geben die Mitglieder der Religion den Betrag als Spende, den sie leicht verkraften können. Sie besitzen mehr als nötig und geben vom Überschuss etwas ab. Jetzt führe ich euch das Verhalten dieser Frau vor Augen. Euch Männern zeige ich das Beispiel der Frau.“ Jesus schickte nicht einen seiner Männer nach, um ihr Geld zuzustecken, sondern stellt sie ihnen als leuchtendes Vorbild vor Augen.
Denn sie alle haben nur etwas von ihrem Überfluss hineingeworfen; diese Frau aber, die kaum das Nötigste zum Leben hat, sie hat alles hergegeben, was sie besaß, ihren ganzen Lebensunterhalt Jesus nannte sie bewusst nicht mehr „arme Witwe“, sondern „Frau“, und es ist das dritte Mal, dass er seinen Schülern eine Frau als Beispiel für Vertrauen nennt: Die erste war die mit den Regelblutungen (Mk 5,34), die zweite war die Nichtjüdin mit ihrer psychisch schwer belasteten Tochter. (Mk 7,29). Bei allen dreien würdigt er deren unerschütterliche Überzeugung, dass ihnen geholfen wird. Aus dem Schlusssatz ist fast ein feierlicher Ton Jesu heraus zu hören: „Diese Frau hat aus ihrem Mangel heraus alles eingeworfen, was sie hatte, ihr ganzes Leben.“ Vielleicht, weil er sicher war, dass sich für diese Frau etwas fügen und das würde ihr Vertrauen bestätigen. Der Schlüssel zum Verständnis scheint hier im letzten Satz zu liegen, nämlich: Sie warf ihr ganzes Leben ein. BIOS heißt Leben, Lebensalltag, Existenzgrundlage. Jesus muss mit einem Mal sein eigenes Schicksal abgebildet gesehen haben im Verhalten der Frau. In wenigen Tagen würde auch er sein ganzes Leben in die Waagschale werfen.
In diesem kurzen Stück kommt sieben Mal das Wort „werfen“ vor (griechisch BALLO). Die Einheitsübersetzung gibt es nur vier Mal wieder, die übrigen zweimal schreibt sie stattdessen „Reiche gaben viel“,... „die Frau hat alles hergegeben“, obwohl dort auch werfen im Original-Text steht. „Werfen“ drückt Leidenschaft und Hingabe aus. Es ist dasselbe Wort wie beim Saatgleichnis: „Mit dem Reich Gottes ist es so, wie wenn ein Mensch Samen auf die Erde wirft.“ Mk 4,25 Auch da übersetzt die Einheitsübersetzung zu ungenau: „… Samen auf seinen Acker sät.“ Damit kommt kaum zum Ausdruck wie Jesus seinen Lebenseinsatz empfindet: Er fühlte sich wie „…hin geworfen auf die Erde.“ Er selber war der Same, das Wort, der volle Einsatz.
Indem Jesus den Scheinwerfer auf den Ganzeinsatz der Frau lenkt, ermutigt er seine Anhänger: Das Letzte zu geben, lohnt sich, auch wenn man sich zunächst als Verlierer fühlt. Du bekommst es reichlich rückerstattet, was du in die Waagschale Gottes geworfen hast. Den wertschätzenden Blicken Gottes entgeht es nicht, wofür du deine Lebenskräfte eingesetzt hast und wie du seinen Vorstellungen entsprochen hast. Am Schluss bist du sicher nicht der zu kurz Gekommene, sondern der Beschenkte, bist eingeladen zum Fest: „… denn die Zeit der Ernte ist da.“ So endet das Saatgleichnis und es klingt nach Feiern: am Festmahl Gottes teilnehmen.