10.Sept. 2023 23.Sonntag im Jahreskreis
Schuldige zur Rede stellen - stufenweise
Matthäus 18,15–20
Wenn dein Bruder gegen dich sündigt, dann geh und weise ihn unter vier Augen zurecht! Hört er auf dich, so hast du deinen Bruder zurückgewonnen. Hört er aber nicht auf dich, dann nimm einen oder zwei mit dir, damit die ganze Sache durch die Aussage von zwei oder drei Zeugen entschieden werde. Hört er auch auf sie nicht, dann sag es der Gemeinde! Hört er aber auch auf die Gemeinde nicht, dann sei er für dich wie ein Heide oder ein Zöllner. Amen, ich sage euch: Alles, was ihr auf Erden binden werdet, das wird auch im Himmel gebunden sein, und alles, was ihr auf Erden lösen werdet, das wird auch im Himmel gelöst sein. Weiter sage ich euch: Was auch immer zwei von euch auf Erden einmütig erbitten, werden sie von meinem himmlischen Vater erhalten. Denn wo zwei oder drei in meinem Namen versammelt sind, da bin ich mitten unter ihnen.
Wieder lässt uns der Evangelist Matthäus einen Spaltbreit hineinblicken in die Zustände der Gemeinden seiner Zeit, also der 80er Jahre. Da ist nicht alles Harmonie und Einigkeit. Lukas schildert zwar die Urgemeinde so: „Die Menge derer, die gläubig geworden waren, war ein Herz und eine Seele.“ (Apg 4,32). Aber das kann nur ein Idealbild sein, in der Realität wird es auch Reibereien gegeben haben, sonst könne es nicht hier heißen: „Wenn sich dein Bruder gegen dich verfehlt, dann geh und mache ihm klar, was er getan hat. Überführe ihn dessen, was er verschuldet hat. Decke vor ihm auf, was er getan hat. Tue das aber nur zwischen dir und ihm allein. Zunächst braucht niemand anderer etwas zu erfahren, was er angestellt hat. Wenn er dir Gehör schenkt, hast du deinen Bruder gewonnen. Schenkt er dir nicht Gehör, dann nimm einen oder zwei Personen mit dir, denn jeder Konflikt-Spruch soll durch die Aussage von zwei oder drei Zeugen Bestand haben. Wenn er sich diesem Spruch verschließt, wenn er sich weigert, ihn zu hören, erst dann mach es öffentlich, sag es der versammelten Gemeinde. Wenn er sich auch weigert, das Wort der Gemeinde zu hören, dann sei er für dich wie einer, der aus den Nationen kommt und er sei für dich wie ein schonungsloser Geldeintreiber (Zöllner).“
Diese Empfehlung enthält viel Weisheit, ebenso wie einige Ungereimtheiten: Beginnen wir mit dem wertvollen in der Aussage: Brüderliche Zurechtweisung erfordert Fingerspitzengefühl und Entschlossenheit zugleich. Gerade in religiösen Kreisen herrscht oft die Scheu vor dem Konflikt, und das Ansprechen von Vergehen wird unterlassen. Oder der Schuldige wird leichtfertig frei gesprochen: „Er kann ja nichts dafür. Er ist einfach so.“ Die Schuld wird nicht in ihrer Tragweite ernst genommen. Der Täter wird nicht zur Verantwortung gezogen. Insgesamt ist Umgang mit Schuld ein Menschheitsthema und nur selten gelingt es, dass verwundete Beziehungen hinterher geheilt werden.
Die Weisung in diesem Abschnitt des Evangeliums lautet: Schuld ansprechen, benennen, aber zuerst im Vier-Augen-Gespräch, sodass der gute Ruf des Täters gewahrt bleibt. Vorrangiges Ziel ist es, den säumigen Menschen zu gewinnen für das Leben im Sinne Gottes. Wenn der Betroffene nicht auf dich als einzelnen hören will, dann schlag den rechtlichen Weg mit zwei oder drei Zeugen ein. Deshalb hole dir eine oder zwei weitere Personen. Somit ist die Aussage abgesichert. Das Hin und Her der Rede kann keiner später abstreiten oder verdrehen, weil es zwei oder drei Zeugen gibt.
Die sogenannte Klagemauer soll noch immer die SCHECHINA, die Anwesenheit Gottes in sich haben. Für Christen sind es nicht Mauern, nicht Gotteshäuser, sondern "Wo zwei oder drei in meinem Namen zusammen gekommen sind, da bin ich ihre Mitte"
Paulus hält die Zurechtweisung in der Gemeinde für wichtig, so schreibt er etwa am Schluss des ersten Thessalonicher-Briefes: „ Wir bitten euch, Brüder und Schwestern: Erkennt die an, die sich unter euch mühen und euch vorstehen im Herrn und euch zurecht weisen. ... Wir ermahnen euch, Brüder und Schwestern: Weißt die zurecht, die ein unordentliches Leben führen“ (1Thess 5,14) Oder am Schluss des Römer-Briefes: „Meine Brüder und Schwestern, im Blick auf euch bin ich fest überzeugt, dass auch ihr voller Güte seid, erfüllt von aller Erkenntnis, und selbst imstande seid, einander zurecht zu weisen.“ (Röm 15,14)
Wenn sich der Betroffene weigert, das Aussprache-Ergebnis anzunehmen (wörtlich: Wenn er vorbeihört,...), erst dann trage den Konflikt der Gemeinde vor. Wenn er auch an der Gemeinde vorbei hört, sie also gar nicht hören will, dann sei er für dich einer, mit dem du nichts zu tun haben brauchst, so als würde er zu den Völkern gehören, die Gott nicht kennen, oder wie einer, der für Geld über Leichen geht.
Nun zu den Ungereimtheiten: Warum nur Brüder? Was ist mit den Schwestern? Kommt das unter weiblichen Gemeindemitgliedern nicht vor? Oh, doch und wie! Paulus liefert uns ein ergreifendes Beispiel im Philipperbrief, den er im Jahr 55 n.Chr. aus dem Gefängnis an seine Lieblingsgemeinde Philippi schreibt. Er gesteht ihnen gleich einleitend, dass er jedes Mal seinem Gott dankt, wenn er an sie denkt. „Immer, wenn ich für euch alle bete, bete ich mit Freude.“ (Phil 1,4) Er weiß, dass sein Zuspruch bei ihnen auf offene Ohren stößt: „Macht meine Freude vollkommen dadurch, dass ihr eines Sinnes seid, einander in Liebe verbunden, einmütig, auf ein und dasselbe bedacht, dass ihr nichts aus Streitsucht, nichts aus hohem Geltungsstreben tut. Sondern nehmt euch selbst zurück und achtet die anderen höher als sich selbst.“ (Phil 2,2f) Trotz des allgemeinen Lobes muss er zwei Frauen aus der Gemeinde tadeln. „Ich ermahne Euodia ( übersetzt >die Wohlduftende<) und ich ermahne Syntyche (übersetzt >die mit dem Glück<), einmütig zu sein im Herrn. Ja, ich bitte auch dich treuer Gefährte, nimm sie fest zu dir. Sie haben mit mir für das Evangelium gekämpft, zusammen mit Klemens und meinen anderen Mitarbeitern. Ihre Namen stehen im Buch des Lebens.“ (Phil 4,2f) Da gibt es also in Philippi zwei Frauen, die mit Paulus an vorderster Front im Einsatz waren und sich hohe Verdienste erworben haben, und die jetzt im Gemeindeleben so spinnefeind aufeinander sind, dass Paulus sie öffentlich ermahnen muss. Der handfeste Rat, den er gibt: Der jeweils mit ihr „Zusammen-Gespannte“ (wörtlich übersetzt), also der Ehepartner, soll sie festhalten, also fest an sich drücken. Die Vorgangsweise des Paulus stimmt nicht mit der obigen 3-Stufen-Regel überein. Zweitens: Passt diese obige Regel zum Verhalten Jesu? Hat er doch in Jericho zu dem obersten Zollpächter gesagt: „Zachäus, komm schnell herunter, denn ich muss heute in deinem Haus bleiben. (Lk 19)
Das dreistufige Vorgehen scheint aus der Zeit des Matthäus zu stammen. Die jeweilige Begründung verrät das Denken und Reden eines Schriftgelehrten, eines religiösen Rechtsfachmannes. Die Wortwahl geht zurück auf Sprüche aus der Tora, dem Gesetzbuch des Mose. „Weise deinen Stammesgenossen zurecht, so wirst du seinetwegen keine Schuld auf dich laden.“ (Lev 19,17). Weiters: „Wenn es um ein Verbrechen oder ein Vergehen geht, darf ein einzelner Belastungszeuge nicht Recht bekommen, welches Vergehen auch immer der Angeklagte begangen hat. Erst auf die Aussage von zwei oder drei Zeugen darf eine Sache Recht bekommen.“ (Dtn 19,15). Auch das Wort EKKLESIA (= zusammengerufene Gemeinde) stammt nicht aus dem Mund Jesu. Wir können also annehmen, diese Gemeinde-Regel stammt aus der Feder des Matthäus. Dennoch liegt sie auf der Linie der Lehre Jesu: Wenn sich ein Mitglied der Glaubensgruppe schuldig gemacht hat, geht es nicht darum über ihn/sie zu urteilen oder ihn/sie zu bestrafen, sondern an erster Stelle muss das Bemühen stehen, ihn/sie zu gewinnen.
Nun wechselt die „Du”-Anrede auf „Ihr“ – das heißt das Folgende hat Gültigkeit für die Gemeinde, nicht allein etwa für den Vorsteher, nicht für Einzelne. „Was immer ihr (!) bindet auf der Erde, ist gebunden im Himmel und was immer ihr löst auf der Erde, ist gelöst im Himmel.“ Hier wird eine juristische Terminologie verwendet und Himmel deutet Endgültigkeit an. Auffallend ist, dass dasselbe Wort zwei Kapitel vorher bei der Schlüsselübergabe an Petrus verwendet worden ist. Matthäus wendet das Binden-Lösen-Wort doppelt an – einmal gegenüber dem Sprecher der Gemeinde – dafür steht „Petrus“ – und ein weiteres Mal gegenüber der Gruppe insgesamt: „Ihr“. Es scheint ihm sehr wichtig zu sein. Nur im Johannes-Evangelium kehrt das Wort wieder, zwar nicht wörtlich, aber sinngemäß. Dort sagt der Auferstandene zu seinem engsten Kreis: „Empfangt den heiligen Geist. Denen ihr die Sünden erlasst, denen sind sie erlassen, denen ihr sie behaltet, sind sie behalten.“ (Joh 20,23) Die Jesus-Gemeinschaft sollte also stets bedenken, welche Folgen es hat, wenn sie mit Schuld oberflächlich umgeht. Ob und wie sie ihre Mitglieder, die sich falsch verhalten haben, zur Rede stellt, das hat nachhaltige Folgen. Wie sie sich dann festlegt, das hat anhaltenden Einfluss. Die Konsequenzen wirken bis in die „Ewigkeit“ – bis in den Himmel. Das sollte die Gemeinde nie unterschätzen. Es wird mit Amen bekräftigt: Amen heißt „zuverlässig“. „Amen. Darauf könnt ihr euch verlassen“.
„Wieder sage ich euch – auch darauf könnt ihr euch verlassen: Wenn zwei von euch auf der Erde in jeder möglichen Angelegenheit übereinstimmen und wenn sie darum bitten, dann wird ihnen die Sache Wirklichkeit werden von Seiten meines Vaters in den Himmeln. Es wird durch meinen Vater geschehen.“ Matthäus stellt diese Jesus-Zusage in den Zusammenhang mit dem Fehlverhalten eines Mitglieds und will damit ausdrücken: Auch wenn die Person uneinsichtig und abweisend ist und ihr keinen Ausweg mehr findet, dann bittet den Vater im Himmel um die Lösung. Wenn sich zwei einig sind, wird das vorgetragene Anliegen wahr. Klarerweise gilt die Zusage auch in anderen Bereichen, nicht nur beim Schuld-Thema. Das hat Matthäus schon viel früher sicher und prägnant geschrieben: „Bittet und es wird euch gegeben. ... Denn wer bittet, der empfängt.“ (Mt 7,7)
„Denn wo zwei oder drei zusammen gekommen sind auf den Namen hin, der meiner ist, dort bin ich in ihrer Mitte.“ Mit diesem Satz ist Matthäus bei seinem Leitthema angelangt: ER MIT UNS. Als Auftakt seines Buches hat er geschrieben: „Sie werden ihm den Namen Immanuel geben, das heißt übersetzt: Gott mit uns.“(Mt 1,23) Und am Buchende wird das letzte Jesus-Wort lauten: „Und siehe, ich bin mit euch alle Tage ...“ Für den ehemaligen jüdischen Schriftgelehrten Matthäus ist die Anwesenheit Gottes, sein Wohnen unter seinem Volk eine sichere Glaubenswahrheit. Es gibt dafür sogar ein eigenes Wort: die SCHECHINA. Wo sich zwei gläubige Juden mit der Tora (= Weisung Gottes ) beschäftigen, ist die SCHECHINA GOTTES mitten unter ihnen. Für Jesus gilt dasselbe: Wenn zwei oder drei zusammen gerufen wurden durch seine Botschaft und sich mit einem Ereignis beschäftigen, das unter seinem Namen steht, dann ist er die Mitte dieses kleinen Kreises.
Warum liegt die Betonung darauf, sich in SEINEM NAMEN zusammen zu finden? Vielleicht, weil die Christen der ersten Jahrzehnte auf seinen Namen getauft waren, vielleicht, weil sie überzeugt waren: „Es ist uns Menschen unter dem Himmel kein anderer Name gegeben, durch den wir gerettet werden.“ Wenn damals ein Christ den römischen Behörden ausgeliefert wurde, hat ihn der Richter zuerst befragt: „Bekennst du dich zum Namen Jesus?“. In unserer Zeit fühlen sich Besucher von Bibelrunden gestärkt, wenn ER die Mitte des Abends war. Viele kommen deshalb immer wieder, weil sie an dem Abend seinen Frieden spüren. Sie gehen sehr entspannt nach Hause. So schildert ja auch das Johannes-Evangelium den Auferstandenen: „Er trat in ihre Mitte und sagte zu ihnen: Friede für euch!“ Die Anwesenheit Jesu wird zu einer spürbaren Realität.