12.Feb. 2022 6.Sonntag im Jahreskreis
Abschaffung oder Weiterführung?
Mt 5,17-25
Denkt nicht, ich sei gekommen, um das Gesetz und die Propheten aufzuheben! Ich bin nicht gekommen, um aufzuheben, sondern um zu erfüllen. Amen, ich sage euch: Bis Himmel und Erde vergehen, wird kein Jota und kein Häkchen des Gesetzes vergehen, bevor nicht alles geschehen ist. Wer auch nur eines von den kleinsten Geboten aufhebt und die Menschen entsprechend lehrt, der wird im Himmelreich der Kleinste sein. Wer sie aber hält und halten lehrt, der wird groß sein im Himmelreich. Darum sage ich euch: Wenn eure Gerechtigkeit nicht weit größer ist als die der Schriftgelehrten und der Pharisäer, werdet ihr nicht in das Himmelreich kommen.
Ihr habt gehört, dass zu den Alten gesagt worden ist: Du sollst nicht töten; wer aber jemanden tötet, soll dem Gericht verfallen sein. Ich aber sage euch: Jeder, der seinem Bruder auch nur zürnt, soll dem Gericht verfallen sein; und wer zu seinem Bruder sagt: Du Dummkopf!, soll dem Spruch des Hohen Rates verfallen sein; wer aber zu ihm sagt: Du Narr!, soll dem Feuer der Hölle verfallen sein. Wenn du deine Opfergabe zum Altar bringst und dir dabei einfällt, dass dein Bruder etwas gegen dich hat, so lass deine Gabe dort vor dem Altar liegen; geh und versöhne dich zuerst mit deinem Bruder, dann komm und opfere deine Gabe! Schließ ohne Zögern Frieden mit deinem Gegner, solange du mit ihm noch auf dem Weg zum Gericht bist! Sonst wird dich dein Gegner vor den Richter bringen und der Richter wird dich dem Gerichtsdiener übergeben und du wirst ins Gefängnis geworfen. Amen, ich sage dir: Du kommst von dort nicht heraus, bis du den letzten Pfennig bezahlt hast. (Kurzfassung des Sonntagsevangeliums).
Das Matthäus-Evangelium – geschrieben in Syrien in den 80er Jahren – ist gekennzeichnet von dem schwierigen Prozess der
Ablöse der jungen Kirche von der Mutterreligion, dem Judentum. Jüdische Autoritäten haben etwa um 80 n.Chr. offiziell erklärt, dass jeder Gläubige, der sich zum Messias Jesus bekennt, aus der Synagoge ausgeschlossen ist. Das wäre für die Jesus-Bewegung Grund genug gewesen, Abstand zu nehmen von dem, was prägend ist für den jüdischen Glauben: Abstand von der Tora, dem Gesetz des Mose und von den Propheten-Schriften. So gab es tatsächlich Stimmen im frühen Christentum, die diese heiligen Schriften, also der Alte Testament, für hinfällig erklärten. Dagegen tritt der Verfasser des Matthäus-Evangeliums ganz entschieden auf. In keinem Evangelium sonst gibt es diese deutlichen Worte, wie in dieser Jesus-Rede:
„Ihr sollt nicht der verbreiteten Meinung erliegen, dass ich gekommen bin, um das Gesetz und die Propheten für hinfällig zu erklären. Ich bin nicht gekommen, um aufzulösen, sondern um zu erfüllen, voll zu machen, zu komplettieren, zu vervollständigen, zum Ende zu bringen. Heilig wahr, ja AMEN ist, was ich euch sage, euch, die ihr Lernende seid bei mir: Bis Himmel und Erde vergehen, wird nicht ein einziges Jota und nicht ein (!) Häkchen des Gesetzes vergehen, bis alles (!) geschehen ist, bis alles wahr geworden ist.“ Jota und Häkchen sind nicht die Buchstaben, sondern Ergänzungen dazu.
„Wer immer daher eines von den geringsten dieser Vorschriften auflöst und die Menschen entsprechend lehrt, der wird in der Königsherrschaft der Himmel der Geringste genannt werden. Wer sie aber hält und lehrt, der wird groß genannt werden in der Königsherrschaft der Himmel.
Gebote sind wie Zäune: Bis hierher und nicht weiter. So sah Jesus die Gebote nicht.
Ich sage euch nämlich: Wenn euer Bemühen, dem Plan Gottes gerecht zu werden, nicht weit die Art übertrifft, wie die beruflichen Bibeltheologen und die Gruppe der Strenggläubigen sich daran halten, dann werdet ihr nicht in die Königsherrschaft der Himmel hinein kommen.“
Was hier im Matthäus-Evangelium so eindringlich vorgetragen wird, ist in sonst keinem Evangelium zu finden. Es scheint auch nicht einhellige Meinung im frühen Christentum gewesen zu sein: Paulus ist da anderer Meinung. Er warnt vor dem Buchstaben des Gesetzes: „Gott hat uns fähig gemacht, Diener des Neuen Bundes zu sein, nicht des Buchstabens, sondern des Geistes. Denn der Buchstabe tötet, der Geist macht lebendig.“ (2 Kor 3,6) Allen von Gott Geliebten in Rom schreibt er: „Jetzt aber sind wir frei geworden vom Gesetz, dem gestorben, woran wir gebunden waren, sodass wir in der neuen Wirklichkeit des Geistes dienen, nicht mehr in der alten Wirklichkeit des Buchstabens.“ (Röm 7,6)
Die nun folgenden Thesen Jesu sind zwar neu, meint Matthäus, aber sie müssen gelesen werden im Horizont der alten von Mose überlieferten Gesetze. Das ist die Tora und ihre Gültigkeit hat noch bleibenden Wert. So sagt Jesus: „Ihr habt gehört, dass zu den Gläubigen seit alters her gesagt worden ist: Du darfst keinen Mord begehen. Du darfst das Leben keines Menschen zunichte machen. Und wer jemanden ermordet, der wird sich vor dem Gericht verantworten müssen, er ist dem örtlichen Gericht unterworfen. Nun bin ich es, der euch sagt (das „Ich“ ist betont): Wer immer den Bruder beschimpft und ihn mit einem verbalen Zornausbruch fertig macht, der muss sich dafür vor dem örtlichen Gericht verantworten. (Es steht im Originaltext nicht: „der auch nur zürnt“, sondern: „der zürnt“). Geschrieben ist das aus dem Blickwinkel des Gemeindelebens zur Zeit des Matthäus. Der „Bruder“ ist das Gemeindemitglied, weil ja in der Gemeinde alle geschwisterlich miteinander verbunden sind. Diese Warnung gilt jedem Mitglied, sie ergeht an ALLE (!), ganz gleich, ob sie in gehobener oder unterer Stellung sind. Wer immer in der Gemeinde ein anderes Mitglied durch Wutschreie zunichte macht, muss sich vor Gericht verantworten. Jemanden nieder zu schreien, war in der damaligen Welt weit verbreitet, in der Christengemeinde stand es unter Strafe.
Wer seinen Bruder als Nichtsnutz beschimpft, wer ihn also heruntersetzt und zu ihm sagt: >Du Hohlkopf, du hast nichts in deinem Schädel<, der wird sich vor dem Hohen Rat verantworten müssen, das ist das Höchstgericht in Jerusalem. Wenn also jemand in der Gemeinde einen anderen die Zurechnungsfähigkeit abspricht, dem droht ein hochrangiges Gerichtsverfahren.
– ganz gleich, ob es ein Vorgesetzter oder ein geringes Mitglied tut.
Wer zu ihm sagt: >Dir fehlt gänzlich jede Vernunft, du bist zu dumm zu allem, du verstehst gar nichts<, der wird schuldig gesprochen werden zur Höllenstrafe mit Gluthitze. Wer die Äußerungen eines anderen als dumm und als bar jeder Vernunft abtut, der macht sie so schuldig, dass ihm untergeheizt werden wird in der Hölle.“
Für Jesus ist es also ganz schlimm, jemanden mit Schimpfwörtern herab zu setzen. Es ist so schlimm wie Mord, weil damit ein Mensch zur Resignation, ja zum Selbstaufgabe getrieben werden kann. Umso erstaunlicher ist, dass Jesus in seinen Wehe-Rufen gegen die Schriftgelehrten genau dasselbe Schimpfwort verwendet und zu ihnen sagt: "Ihr blinden Narren (= Unvernünftigen)!" Mt 23,17 Wohlgemerkt, er sagt das nicht zu Brüdern, sondern zu Verantwortlichen der jüdischen Religion. Matthäus schreibt es zu einer Zeit, als die jüdische Führung bereits alle aus der Synagoge ausgeschlossen hat, die Jesus als Messias anerkennen.
„Wenn du auf dem Weg zum Gotteshaus bist und du dort zum Opferaltar dein Weihegeschenk oder deine Spende hinbringst und wenn du dich erinnerst, dass dein Bruder etwas gegen dich hat, dann lass dein Geschenk dort vor dem Altar liegen. Es hätte keinen Sinn Gott ein Opfer darzubringen und gleichzeitig in Verstimmung mit dem Glaubensbruder zu sein. Geh weg und bring zuerst eine Aussöhnung mit dem Bruder zuwege und danach komme und bringe dein Weihegeschenk dar.“ Zu beachten ist, dass wieder die Rede ist von einem Gemeindemitglied, mit dem eine Aussprache von Nöten ist. Matthäus schreibt zwar immer nur vom „Bruder“, aber damit ist genauso die „Schwester“ gemeint. Geglückte Gottesbeziehung ist abhängig von unserer Beziehung zu Mitmenschen. Wenn jemand eine aufbauende Gottesbeziehung möchte, wird darauf Wert legen, Unstimmigkeiten mit Nahestehenden zu bereinigen. Die Aussöhnung bewirkt, dass man danach mit einem ganz anderen Gefühl ins Gotteshaus gehen kann.
Das nächste Jesus-Wort betrifft nicht den „Bruder“, sondern den „Widersacher“: „Stelle mit deinem Widersacher ein gutes Verhältnis her, solange du noch auf dem Weg zum Gericht bist. Er ist dein Prozessgegner, aber lass es nicht auf den Prozess ankommen.“ Der Original-Text sagt nicht: „Schließ Frieden“ – das Wort „Friede“ kommt nicht vor. „Komme überein mit deinem Gegner, der mit dir wegen einer Rechtsangelegenheit streitet.“ Mit dem Wort „auf dem Weg“ kann auch die Zeitspanne gemeint sein bis zum Gerichtstermin. „Nütze sie für eine Übereinkunft. Mach das schnell, möglichst bald! Damit verhinderst du von vornherein, dass dich der Widersacher den lokalen Richter einschaltet. Wenn der Gegner ein einflussreicher Mann ist und wenn der Richter bestechlich ist, kann es schlimm werden mit dir, selbst wenn du dich im Recht fühlst. Lass es nicht darauf ankommen, dass dich dein Widersacher vor den Richter bringt und der Richter womöglich gegen dich entscheidet. Er wird dich dem Gerichtsdiener übergeben und du wirst ins Gefängnis geworfen. Amen, ich sage dir: Du kommst von dort nicht heraus, bis du den letzten Pfennig bezahlt hast. Das könntest du dir von vornherein ersparen.“ Wozu Jesus hier rät, ist weniger ein moralischer Appell als vielmehr ein Aufruf zur Vernunft. Er empfiehlt diese Vorgangsweise als Schadensbegrenzung: Versuche immer den Weg der Aussprache, es ist vernünftiger. Traue dem Gegner zu, dass er mit sich reden lässt. Möglicherweise kommt er dir entgegen. Sollte es doch hart auf hart gehen, dann wenigstens nicht deshalb, weil du selber auf stur geschaltet hast.
Erstaunlich, wie handfest und alltagstauglich die Weisungen Jesu sind. Man muss kein Gläubiger sein, um sie einzusehen. Sie sind vernünftig. Jesus argumentiert schlüssig. Er rät dringend, es nicht bis zum Äußersten kommen zu lassen, sondern schon auf Fehllagen in den Anfängen hinzuschauen und sie zu korrigieren. Nicht warten, bis es zur Übertretung eines Gesetzes kommt. Lieber vorbeugend das sich anbahnende Schlimmere verhindern.